Einspruchsfrist auf ein Jahr verlängert

Der fünfte Senat des Finanzgerichts Schleswig-Holstein hat einen Einspruch für zulässig erklärt, obwohl dieser später als einen Monat nach Bekanntgabe des Steuerbescheids eingelegt wurde.

Im Bescheid hieß es:

Dieser Bescheid kann mit dem Einspruch angefochten werden. Der Einspruch ist bei der vorbezeichneten Familienkasse schriftlich einzureichen oder zur Niederschrift zu erklären. […]

Das Finanzgericht hat entschieden, dass solch eine Rechtsbehelfsbelehrung unrichtig im Sinne des § 356 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO) ist, weil sie – entgegen dem Wortlaut des § 357 Abs. 1 Satz 1 AO – nicht auf die Möglichkeit der elektronischen Einreichung des Einspruchs hinweist. Die Einspruchsfrist betrage dann ein Jahr. Der im Streitfall von der Behörde gewählte Text der Rechtsbehelfsbelehrung gab den Wortlaut des § 357 Abs. 1 Satz 1 AO nur unvollständig wieder, weil auf die Möglichkeit der elektronischen Einreichung nicht hingewiesen wurde.

Nach § 355 Abs. 1 Satz 1 AO beträgt die Einspruchsfrist einen Monat nach Bekanntgabe des Verwaltungsaktes. Ist die Rechtsbehelfsbelehrung unterblieben oder unrichtig erteilt worden, verlängert sie sich auf ein Jahr. Unrichtig im Sinne des § 356 Abs. 2 Satz 1 AO sei eine Rechtsbehelfsbelehrung, wenn sie geeignet sei, bei dem Betroffenen einen Irrtum über die formellen oder materiellen Voraussetzungen des in Betracht kommenden Rechtsbehelfs hervorzurufen und ihn dadurch abzuhalten, den Rechtsbehelf überhaupt, rechtzeitig oder in der richtigen Form einzulegen. Das Finanzgericht hatte über die Anforderungen an die Wiedergabe der in § 357 Abs. 1 Satz 1 AO genannten Möglichkeiten zur Einlegung eines Einspruchs zu entscheiden, bewertete die E-Mail als ein zunehmend anerkanntes Kommunikationsmittel und führte aus, dass es in Zeiten zunehmenden E-Mail-Verkehrs widersprüchlich und schwer nachvollziehbar erscheine, einerseits die Erhebung des Einspruchs durch E-Mail zuzulassen, andererseits aber auf diese Möglichkeit in der Rechtsbehelfsbelehrung nicht hinweisen zu müssen.

Revision möglich

Die Finanzbehörde kann Revision gegen die Entscheidung einlegen.

Die Entscheidung des Finanzgerichts bezieht sich auf § 357 Abs. 1 AO in der seit dem 1. August 2013 geltenden Fassung. Zu der bis Juli 2013 geltenden Gesetzesfassung hat der Bundesfinanzhof bereits entschieden, dass ein Hinweis auf die Erhebung des Einspruchs durch E-Mail nicht erforderlich sei.

Auswirkungen

Die meisten Steuerbescheide werden im Rechenzentrum der Finanzverwaltung gedruckt und enthalten seit einiger Zeit eine korrekte Rechtsbehelfsbelehrung. Viele Bescheide, die eine Finanzbeamter „in Handarbeit“ anfertigt, beruhen aber noch auf alten Vorlagen. Zinsbescheide, Bescheide über die Ablehnung eines Antrags und andere ungewöhnliche Steuerbescheide enthalten häufig noch fehlerhafte Rechtsbehelfsbelehrungen, so dass eine verlängerte Einspruchsfrist gilt.

Auch Einspruchsentscheidungen müssen eine Rechtsbehelfsbelehrung enthalten. Hier sind die Voraussetzungen etwas anders, weil nicht die Abgabenordnung, sondern die Finanzgerichtsordnung die maßgebenden Regelungen enthält. Aber auch bei Einspruchsentscheidungen kann die Frist sich bei unzutreffender oder fehlender Rechtsbehelfsbelehrung auf ein ganzes Jahr verlängern.

Warnung

Für Einsprüche gegen Steuerbescheide genügt eine einfache E-Mail. In zahlreichen anderen Rechtsgebieten sehen die Verfahrensordnungen aber strengere Formvorschriften vor. Wenn möglich, beachten Sie die Form und Frist, die in der Rechtsbehelfsbelehrung empfohlen wird!

FG Schleswig-Holstein, Urteil vom 21. Juni 2017, 5 K 7/16
Bundesfinanzhof, Urteil vom 5. März 2014, VIII R 51/12

Paragraphenreiter vergaloppiert sich

Wer einen Steuerberater beauftragt und dem Finanzamt eine Einzugsermächtigung erteilt, braucht sich um keine steuerliche Frist mehr selbst zu kümmern. Besser noch: Wenn der Steuerberater dem Finanzamt eine Vollmacht vorlegt, darf das Finanzamt den Steuerpflichtigen nicht mehr mit Post belästigen, sondern muss sich an den Steuerberater wenden. So jedenfalls der Grundsatz (§ 122 Abs. 1 Satz 4 der Abgabenordnung und Abschnitt 69 Abs. 4 des Anwendungserlasses zur Abgabenordnung).

Fehler im Finanzamt

Leider passiert es immer wieder mal, dass der Sachbearbeiter im Finanzamt eine Vollmacht übersieht. Automatisiert erlassene Steuerbescheide sind meist richtig adressiert, aber fehleranfällig sind alle Vorgänge, bei denen „Handarbeit“ nötig ist. So beispielsweise Schätzungsbescheide, die das Finanzamt erlässt, wenn vom Steuerpflichtigen keine Steuererklärung eingeht. In einem Fall hat ein Finanzbeamter in Baden-Württemberg am 29. Dezember 2009 einen Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2003 erlassen und an den Steuerpflichtigen übersandt. Der Empfänger hatte aber einen Steuerberater bevollmächtigt und durfte sich darauf verlassen, dass der alles erfährt und sich um alles kümmert. Er ignorierte also den Bescheid.

Schätzung völlig verkehrt

Zwei Jahre später stellte das Finanzamt unter Beteiligung des Steuerberaters fest, dass die Schätzung der Einkünfte völlig verkehrt war. Tatsächlich hatte der Steuerpflichtige im Jahr 2003 einen Verlust erlitten, der mit Einkünften der Folgejahre zu verrechnen war. Das Finanzamt erließ im September 2011 einen neuen Bescheid und stellte zumindest einen Teil der Verluste förmlich fest. Den neuen Bescheid adressierte es zutreffend an den Steuerberater.

Einspruchsverfahren

Der Steuerberater legte Einspruch gegen die „zu niedrige“ Verlustfeststellung ein. Daraufhin widmete sich ein Paragraphenreiter in der Rechtsbehelfsstelle des Finanzamts der Akte. Er wies den Einspruch zurück, ohne sich inhaltlich mit den Verlusten zu beschäftigen. Seine Argumente: Der Bescheid vom 29. Dezember 2009 sei falsch adressiert gewesen, und der Bescheid aus September 2011 sei nach Ablauf der Verjährungsfrist ergangen, also seien beide unwirksam. Die Verluste seien nicht höher und nicht niedriger festzustellen, sondern gar nicht mehr. Er hob den Verlustfeststellungsbescheid auf.

Klage erfolgreich

Das Klageverfahren war in letzter Instanz erfolgreich. Der Bescheid vom 29. Dezember 2009 war zwar falsch adressiert, hat aber den richtigen Adressaten – den Steuerberater – doch irgendwann erreicht. Das genügt, um den Eintritt der Verjährung zu verhindern. Der Bundesfinanzhof stellt fest, dass die Versuche des Finanzamtes, sich mit Überlegungen zum „Zustellwillen“ und anderen formalen Verrenkungen ins Recht zu setzen, in einem Rechtsstaat fehlplatziert sind:

„Letztlich wäre die behauptete Aufgabe des Zustellwillens auch aus rechtlichen Gründen unbeachtlich (unzulässige Rechtsausübung). Das Finanzamt hat einen nachvollziehbaren Grund für die angebliche Aufgabe des Zustellwillens nicht dargetan. Das denkbare Ziel, die Feststellung von Verlusten zu verhindern, wäre jedenfalls mit dem gesetzlichen Auftrag, die Steuern gleichmäßig festzustellen, nicht vereinbar.“

Ergebnis

Die Verjährung wirkt in beide Richtungen, zugunsten wie zulasten des Finanzamtes, und umgekehrt zugunsten wie zulasten des Steuerpflichtigen. Wenn das Finanzamt eine Maßnahme ergriffen hat, um den bevorstehenden Eintritt der Verjährung zu verhindern, ist es daran gebunden, auch wenn es später bemerkt, dass bei diesem Steuerpflichtigen nicht so viel zu holen ist wie geplant.

Bundesfinanzhof, Urteil vom 11. April 2017, IX R 50/15

Fehler durch veraltete Gesetze

Brieföffner mit Kuvert und Hand
Öffnen eines Briefes“ von Frank C. Müller on Wikimedia Commons steht unter der Lizenz CC-BY-SA 2.5

Eine GmbH wurde im Jahr 2011 umstrukturiert. Nach Aufstellung des Jahresabschlusses gab der Steuerberater eine Steuererklärung für dieses Jahr ab. Verluste aus den Vorjahren verrechnete er wegen der Umstrukturierung nur zu einem Teil mit dem Gewinn des Jahres 2011, nicht vollständig. Das Finanzamt folgte der Steuererklärung, unterwarf den Gewinn der Körperschaftsteuer und verschickte den Steuerbescheid am 28. Dezember 2012 an den Steuerberater.

Fehler: Gesetzesfassung 2008 angewandt

Der Steuerbescheid wäre richtig gewesen, wenn die Umstrukturierung schon 2008 erfolgt wäre. Seit 2009 gilt aber: Steuerliche Verlustvorträge überstehen eine Umstrukturierung jedenfalls dann, wenn – wie hier – stille Reserven in der GmbH schlummern (§ 8c Abs. 1 Satz 6 KStG). Der Gewinn des Jahres 2011 hätte in voller Höhe mit Verlusten der Vorjahre verrechnet werden dürfen.

Einspruch verspätet

Dieser Fehler fiel erst ein Jahr später auf. Im Januar 2014 beantragte der Steuerberater, den Steuerbescheid zu ändern. Für einen Einspruch war es allerdings schon zu spät. Dieser hätte innerhalb eines Monats beim Finanzamt eingehen müssen.

Bescheid nichtig?

Die GmbH berief sich im anschließenden Klageverfahren darauf, dass der Bescheid so grob fehlerhaft sei, dass er von vornherein keine Rechtswirkung hätte entfalten können (Nichtigkeit). Ein Steuerbescheid ist gemäß § 125 der Abgabenordnung nichtig, soweit er an einem besonders schwerwiegenden Fehler leidet und dies bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offenkundig ist. Beispielhaft nennt das Gesetz einen Steuerbescheid, der „die erlassende Finanzbehörde nicht erkennen lässt“. So hat etwa die Finanzverwaltung in Bremen nach der Zusammenlegung der Finanzämter Bremen-West und Bremen-Ost im Februar 2013 versehentlich Schreiben mit dem Briefkopf „Finanzamt Bremen-Muster“ verschickt.

Inhaltliche Fehler führen hingegen nur in besonders krassen Ausnahmefällen zur Nichtigkeit. Anerkannt ist, dass ein Steuerbescheid nichtig ist, wenn sein Inhalt „objektiv willkürlich“ ist, also „unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass er auf sachfremden Erwägungen beruht.“ Fehlerhafte Rechtsanwendung allein macht eine hoheitliche Entscheidung jedoch nicht willkürlich. Willkür liegt vielmehr erst dann vor, wenn eine offensichtlich einschlägige Norm nicht berücksichtigt, der Inhalt einer Norm in krasser Weise missverstanden oder sonst in nicht mehr nachvollziehbarer Weise angewendet wird (vgl. Bundesverfassungsgericht, BVerfGE 89, S. 1, 13 f.; BVerfGE 96, S. 189, 203).

Hier: „Nur“ ein struktureller Rechtsanwendungsfehler

Das Finanzamt entschuldigte sich für die falsche Rechtsanwendung mit dem Hinweis, dass der zuständigen Sachbearbeiterin nur eine Gesetzessammlung mit der für den Veranlagungszeitraum 2008 anzuwendenden Fassung des Körperschaftsteuergesetzes zur Verfügung gestanden habe. Das hält der Bundesfinanzhof für einen Rechtsanwendungsfehler, der einen Steuerbescheid zwar fehlerhaft macht, aber nicht nichtig. Dagegen hätte rechtzeitig Einspruch eingelegt werden müssen.

Offene Frage: Welche Gesetzessammlung nutzt der Steuerberater?

An der Entscheidung verwundert, wie es überhaupt dazu kommen konnte, dass der fehlerhafte Steuerbescheid erlassen wurde. Offenbar hat nicht nur das Finanzamt, sondern auch der Steuerberater bei der Vorbereitung der Steuererklärung übersehen, dass die seit 2009 geltende Neuregelung im Körperschaftsteuergesetz eine geringere Steuerlast für die GmbH begründet.

BFH, Beschluss vom 31. Mai 2017, I B 102/16